Gastbeitrag von Steffen Schneider
Es wird eng in den Städten
Die Coronakrise beschleunigt Entwicklungen, die vorher zwar schon sichtbar waren, aber in unserem Alltag kaum Beachtung gefunden haben. Die urbane Mobilität und dabei gerade die Rolle der Fahrräder in den Städten gehören mit dazu. Die aktuellen Beschränkungen haben uns die Ziele in der Ferne genommen und bringen viele Menschen dazu, jetzt mit dem Rad die nähere Umgebung zu erkunden. Und plötzlich wird vielerorts sichtbar, wie unzureichend unsere Infrastruktur dafür ist, wie wenig Platz Fußgängern und Radfahrern eingeräumt wird. Das verstärkt sich noch durch das 1,5-m-Abstandsgebot. Wie bitte soll das gehen?
Dieses neue Bewusstsein nutzen einige Städte für spontane Aktionen, die in langfristige Konzepte übergehen. Pop-up-Bikelanes entstehen – und die Planung ganzer Großstädte wird überdacht. Die Konzepte in Kopenhagen, Wien, Paris und Amsterdam, die lange schon ihren Fokus auf Fahrradverkehr gelegt haben, kennen viele. Aber plötzlich kommen die Meldungen auch aus anderen Städten: Brüssel plant, die Innenstadt auf Fuß- und Radverkehr auszurichten, und London will den Fahrradverkehr durch große Infrastrukturmaßnahmen verzehnfachen. Auch New York City, Sevilla, Barcelona, Rom und viele andere haben ähnliche Ziele. Kein Wunder, dass im Umfeld dieser Megastädte auch Berlin eine Rolle spielt.
Entdecke alle 46 Radentscheide in Deutschland (Stand: 04.2021)
Das Beispiel Berlin inspiriert
2015 bildete sich in Berlin die Initiative „Volksentscheid Fahrrad“, die den Senat über ein Volksbegehren in die Pflicht nehmen wollte: Die Mobilität in der Stadt sollte neu gedacht und dem Fahrrad als wichtiges Verkehrsmittel Raum gegeben werden. Im Juni 2018 verabschiedete der Berliner Senat, basierend auf den Forderungen dieser Initiative, das aktuelle Mobilitätskonzept. Aktuell ist Berlin in der Umsetzung und reagiert auch auf Corona kurzfristig mit vielen Kilometern temporärer Radwege.
Der Fokus auf Autoverkehr führt – bei immer mehr und immer größeren Fahrzeugen – zuerst in den riesigen Städten zum unlösbaren Problem. Aber auch in den mittleren Großstädten spürt man die fehlende Flächengerechtigkeit. Durch viele geparkte Autos bleibt kaum Raum zum Gehen. Und die Parkplatzsuche wird zum noch größeren Ärgernis als die täglichen Staus. Da kommt das Fahrrad als Problemlöser in den Blick.
Das Vorbild Berlin hat in vielen Städten Initiativen ermutigt, sich für einen lokalen Radentscheid zu engagieren. Laut Changing Cities, einer NGO die aus dem Berliner Volksentscheid Fahrrad entstanden ist, sind aktuell 35 Radentscheide am Start. Gerade in diesen Wochen startete auch in Bonn die Unterschriftensammlung unter dem Motto „Bonn steigt auf“. Wir haben dort einen Blick hinter die Kulissen geworfen.
Bonn steigt auf
Bonn hat ca. 320.000 Einwohner. Es ist geprägt von einer großen Universität, großen Konzernen wie Telekom und Post, Tech-Unternehmen und vielen UN-Organisationen. Durch die Lage am Nordrand der Mittelgebirge gibt es zum Stadtrand hin viele Steigungsstrecken und der Rhein mitten in der Stadt erzeugt Verkehrs-Nadelöhre in Form von drei Brücken. Hier ist Verkehrsplanung nicht einfach, und die Stadt gehört zu den Stau-Hochburgen in NRW. Schon vor Jahren haben die Stadtoberen davon geträumt, 2020 Fahrradhauptstadt Deutschlands zu sein. Allein: passiert ist wenig. Viele Fahrradschutzstreifen und Fahrradstraßen sind eingerichtet worden (die bei den Nutzern allesamt eher schlechte Noten bekommen), aber selten wurde neue Infrastruktur gebaut und eine zukunftsfähige Mobilitätsplanung gibt es schon gar nicht.
Genau da setzt der Radentscheid mit seinen Forderungen an. Ziel ist es, die Stadt zu verpflichten, für mindestens fünf Jahre jährlich eine definierte Anzahl von Fahrradinfrastrukturmaßnahmen umzusetzen. Dabei geht es um das Umbauen von Kreuzungen und Einmündungen, die Neuschaffung von Fahrradwegen, den kontinuierlichen Umbau der bestehenden Strukturen und deren Instandhaltung bis hin zu Abstellanlagen und transparenten Dokumentationen, um die Umsetzung auch begleiten zu können. Der Blick geht dabei aber nicht alleine auf die Radfahrer sondern auch auf die Fußgänger. Denn alle Verkehrsteilnehmer sind auch Fußgänger und brauchen Bewegungsraum, der nicht mit dem Radverkehr konkurriert.
So geht Demokratie
Die Landesverfassung bietet das Instrument des Bürgerbegehrens an, das der Stadtrat beraten muss, wenn mindestens 10.000 Bonner Einwohner dafür unterschreiben. Lehnt der Rat ab, können die Bürger in der Folge einen Bürgerentscheid organisieren, der dann bindend für die Politik ist. Um ein Bürgergehren auf die Beine zu stellen, formierte sich aus dem Umfeld des ADFCs eine Initiative, die von ca. 50 Aktiven getragen wird. Traf man sich zu Anfang noch im selbstverwalteten Gebäude der ehemaligen Volkshochschule, musste die Gruppe sich coronabedingt ins Homeoffice begeben. Dank Slack, Nextcloud und Videokonferenzen lief die Vorbereitung weiter. Allerdings musste das Konzept radikal umgestellt werden. Statt Großveranstaltungen, in denen man Unterstützer gewinnen konnte, zwingt das Corona-Kontaktverbot, die Aktion in Kleinstgruppen zu organisieren. Trotzdem bleibt die Anforderung, dass nur Unterschriften auf Papier zählen, eine Online-Petition ist nicht möglich. Über Social-Media-Kanäle und persönliches Engagement versuchen die Bonner jetzt, ihren Aufruf zu verbreiten. Ziel ist es, viele kleine Sammelinitiativen anzustoßen und den Aufruf an Freunde und Bekannte weiterzureichen. Auch die Fahrrad XXL Feld-Filiale in St. Augustin, vor den Toren Bonns, ist als Unterstützer und Sammelstelle dabei.
Das Fahrrad als Chance
Es ist eine spannende Situation und das Ergebnis ist ungewiss. Überwiegen die Problem durch die Corona-Einschränkungen oder wirkt der temporäre Rückgang des Autoverkehrs (in Bonn zweitweise um weit über 50%) und die aktuelle neue Lust vieler Menschen aufs Fahrrad als besonderer Verstärker? Ob der Vorteil oder das Handicap den Ausschlag gibt, werden die kommenden Wochen in Bonn zeigen. Aber auch an vielen anderen Orten werden Unterschriften für bessere Radwege gesammelt, denn viele Mitbürger begreifen, welche Chance sich damit für unsere gestressten Städte eröffnen. Wer gerne Rad fährt, sollte sich zu Haus umsehen und die Radentscheide unterstützen. Lasst uns unsere Städte fahrradgerecht machen. Wir sind davon überzeugt, dass am Ende die gesamte Stadt davon profitiert.
Comments are closed.