Virtueller Radsport:
Die neue Lust am Training in den eigenen vier Wänden
Die Spitzengruppe jagt den finalen Anstieg des Rennens hoch, in der letzten Kurve greift der deutsche Jonas Rapp an, Landsmann Jason Osborne hängt sich
ans Hinterrad, sprintet vorbei und fährt souverän zum Sieg im WM-Rennen. Doch Osborne, Rapp und ihre Kontrahenten kämpften nicht etwa Rad an Rad am Mont Ventoux, Galibier oder Tourmalet um den Weltmeistertitel, sondern jeder für sich auf dem Rollentrainer daheim im Keller, der Garage, dem Wohnzimmer – oder in Osbornes Fall in seinem Hotelzimmer im Trainingslager in Portugal.
Von dort startete Osborne, der eigentlich professioneller Ruder-Sportler ist, zur ersten offiziellen Weltmeisterschaft im E-Cycling. Alleine die Tatsache, dass der Radweltsportverband UCI sich der Sache annimmt, beweist, welchen Stellenwert das Thema „virtueller Radsport“ mittlerweile hat.
Von der Last zur Lust
Vor wenigen Jahren galt das Radsporttraining auf dem stationären Rollentrainer eher als lästige Pflicht für Profis und ambitionierte Amateure. Doch heute ist das Thema voll im Radsport-Mainstream angekommen. Den Weg haben zwei parallel verlaufende Entwicklungen geebnet: Immer bessere, leisere, vielseitigere und mittlerweile auch smarte Hardware, sprich, die Rollentrainer plus Zubehör. Und die dazu passende Software – also immer ausgefeiltere Trainingsprogramme. Allen voran Platzhirsch Zwift: Die Online-Trainingsplattform hat erst kürzlich 450 Millionen US-Dollar von Investoren eingesammelt. Inzwischen jagen zehntausende Sportler gleichzeitig über die virtuellen, teils realen Strecken nachgebildeten Straßen. Für einen Push sorgte zudem die COVID-19-Pandemie, da Radsport auf der Straße oder den Trails in manchen Ländern teils komplett untersagt war.
So stehen heute in immer mehr radsportlichen Haushalten entsprechende Trainingsgeräte – je nach Geschmack, Bedarf und Budget im Wert von wenigen Hundert oder einigen Tausend Euro. In den sozialen Medien posten Sportler Videos, Screenshots und die Daten ihrer letzten Trainingseinheit – und Fotos ihres „Pain Caves“, wie es neudeutsch heißt: die „Folterkammer“. Diese kann von der Nische im Keller neben der Waschmaschine bis zum eigens dafür eingerichteten Zimmer mit Großbildfernseher,
Audioanlage, Ventilator und mehr reichen.
E-Sports – Aber richtig!
Mit diesem Setup starten Sportler aus aller Welt auf ihre Trainingsfahrten, verabreden sich zu gemeinsamen Rides oder nehmen an Rennen im virtuellen Raum teil.
Damit betreiben sie E-Sports im Wortsinn. Denn anders als bei Fußballspielen auf der Playstation oder Ego-Shootern am PC geht es beim Rollentraining um echte physische Herausforderung. Je nach Intensität und Trainingsprogramm fließt der Schweiß in Strömen. Mittlerweile stellen auch die Radsport-Teams ihre Fahrer immer öfter zu virtuellen Rennen ab, speziell natürlich in Zeiten der Pandemie. Kenner sind überzeugt, dass hier eine eigenständige Disziplin des Radsports entsteht – inklusive darauf spezialisierten Profisportlern. Denn im Gegensatz zu Eintagesrennen draußen auf der Straße oder großen Rundfahrten wie der Tour de France, sind die Rennen auf Plattformen wie Zwift und Co. deutlich kürzer, dafür aber intensiver. Damit ähneln sie eher den Belastungen eines Cyclocross-Rennens.
Das größte Manko der Entwicklung im E-Radsport: Anders als bei realen Radrennen greift der Funke für die Faszination des virtuellen Radsports noch nicht so recht auf die Fans über. Erste Versuche, die Rennen im Fernsehen zu übertragen, stießen auf bescheidenes Interesse. Zu schwierig ist es, das für Außenstehende ohnehin eher langweilige Renngeschehen übersichtlich zu vermitteln. Gut möglich, dass dies im Zuge der rasanten Entwicklung in diesem Bereich schon bald besser gelingen wird. Doch selbst wenn nicht: Bei den aktiven Sportlern ist der virtuelle Radsport voll eingeschlagen. Denn anders als noch vor wenigen Jahren macht er heute vor allem eins: richtig viel Spaß.
Das braucht ihr für euren Pain Cave:
1. Rollentrainer
Einsteiger (z. B. Tacx Flow Smart, 299 Euro)
Tacx Flow Smart – Bildquelle: Bike24
Kleiner, einfacher Start in den virtuellen Radsport. Das Rennrad wird einfach in den kompakten Trainer eingespannt. Über das Hinterrad wird eine Rolle angetrieben.
Der Smart-Trainer kann Steigungen bis 6 % simulieren. Allerdings sollte ein spezieller Indoor-Reifen aufgezogen werden.
Vorteile:
- Günstig
- Einfach zu verstauen
- Hinterrad muss nicht ausgebaut werden
Nachteile:
- Recht laut
- Weniger authentisches Fahrgefühl
- Kein Anschieben bei Fahrten
Mittelklasse (z. B. Elite Suito, 599 Euro)
Elite Suito – Bildquelle: Elite
Bei etwa 600 Euro startet die Welt der smarten Rollentrainer mit Direktantrieb. Hier wird das Hinterrad des Fahrrads ausgebaut und durch den Rollentrainer ersetzt. Der Direktantrieb ist leiser, bietet ein besseres Fahrgefühl und geringeren Verschleiß. Der Elite Suito kann Steigungen bis 15% simulieren.
Vorteile:
- Recht leise
- Realistisches Fahrgefühl
- Kassette inklusive
- Sofort einsatzbereit
- Platzsparend zu verstauen
Nachteile:
- Leistungsmessung nur simuliert
Oberklasse (z. B. Tacx Neo 2T Smart, 1299 Euro)
Tacx Neo 2T Smart – Bildquelle: Tacx
Starker Rollentrainer mit Direktantrieb im futuristischen Look. Hier wird das Hinterrad des Rennrads ausgebaut und durch den Rollentrainer ersetzt. Dabei lässt der Neo 2T Smart mit seinen umfassenden Funktionen und dem tollen Fahrgefühl keine Wünsche offen. Dank der präzisen Leistungsmessung eignet er sich für gezieltes, professionelles Training. Der Trainer kann Steigungen bis 25 % simulieren und schiebt auch auf der Abfahrt an. Es wird eine zum Fahrrad passende Kassette benötigt.
Vorteile:
- Leise
- Realistisches Fahrgefühl
- Auch ohne Stromanschluss nutzbar
Nachteile:
- Recht teuer
High End (z. B. Wahoo Kickr Bike, 3500 Euro)
Wahoo Kickr Bike – Bildquelle: Wahoo
All in one: Beim Kickr Bike von Wahoo ist das Rad schon inklusive. Einfach Pedale und bei Bedarf den eigenen Sattel anschrauben und los geht’s. Clou: das Bike passt die Neigung der virtuellen Strecke an, sodass es etwa im Anstieg wirklich bergauf geht. Das Kickr Bike kann so Steigungen bis 20 % und Abfahrten bis 15 % simulieren. Der Preis hat sich gewaschen, dafür entfällt das Ein- oder Umbauen des richtigen Rennrads.
Vorteile:
- Leise
- Realistisches Fahrgefühl
- Neigungsanpassung
Nachteile:
- Sehr teuer
- Sperrig
2. Zubehör
Matte (z. B. Govital Bodenschutzmatte L, 29,99 Euro)
Govital Bodenschutzmatte – Bildquelle: Govital
Dämpft Vibrationen und schützt den Boden vor Schweiß.
Schweißfänger (z. B. Tacx Sweat Cover, 19,90 Euro)
Schützt den Rahmen des Fahrrads vor Schäden durch aggressiven Schweiß.
Tisch (z. B. Wahoo Kickr Desk, 279,99 Euro)
Praktisches, höhenverstellbares Pult für Notebook, Tablet und Co.
Ventilator (z. B. Wahoo Kickr Headwind, 229,99 Euro)
Bloß nicht ins Schwitzen kommen: Der smarte Ventilator simuliert den Fahrtwind und sorgt so für Abkühlung.
Bergsimulator (z. B. Wahoo Kickr Climb, 549,99 Euro)
Kombiniert mit den Kickr-Trainern passt der Climb die Neigung des Rads an das Gefälle der virtuellen Strecke an.
Vorderradständer (z. B. Tacx Skyliner, 20,99 Euro)
Tacx Skyliner – Bildquelle: Tacx
Fixiert das Vorderrad und hebt es auf das Niveau des Hinterrads.
Kassette (z. B. Shimano 105, 49,95 Euro)
Shimano Kassette 105 – Bildquelle: Shimano
Die meisten Trainer mit Direktantrieb werden ohne Kassette ausgeliefert. Wer sich das Umschrauben vom Fahrrad sparen will, sollte
also noch in eine separate Kassette investieren, in z. B. vergleichsweise günstige Modelle wie Shimanos 105.
Bekleidung (z. B. Castelli Insider Bibshort und Jersey, 119,95 und 74,95 Euro)
Castelli Insider Bibshort – Bildquelle: Castelli
Spezielle, besonders leichte und atmungsaktive Indoor-Kleidung für den hitzigen, intensiven Trainingseinsatz auf der Rolle. Das leichte Trikot macht auch auf Touren an heißen Sommertagen eine gute Figur.
3. Software
Zwift
Die virtuellen Straßen auf der Insel Watopia sowie in immer weiteren Welten haben sich in den vergangenen Jahren zu Hotspots des virtuellen Radsporttrainings entwickelt. Die Software gleicht einem Computerspiel, in welchem die Avatare echter Radfahrer und mittlerweile auch Läufer unterwegs sind. Der Sportler hat die Wahl, ob er auf eigene Faust oder in organisierten Rides, Trainingsfahrten oder gar richtigen Rennen „zwiftet“. Für besonderen Anreiz sorgt dabei auch das Belohnungssystem: Je mehr der Radfahrer auf Zwift unterwegs ist, desto schneller klettert er von Level zu Level und schaltet dadurch etwa neue, virtuelle Fahrräder und mehr frei.
Website: www.zwift.com
Preis: 14,99 € pro Monat
Virtupro
Ganz frisch auf dem Markt ist die Beta-Version von Virtupro. Die Software basiert auf dem unter Radsportfans bekannten Computerspiel „Pro Cycling Manager“. Hier tritt der Sportler als „Einzelspieler“ in einer Welt von Computer-Konkurrenten (KI) an – auf Wunsch sogar zu Etappenrennen wie der Tour de France. Als Kapitän eines Radteams kann er seinen Teamkollegen dabei Aufgaben wie attackieren, zurückfallen lassen, Windschatten spenden oder den Sprint anziehen zuweisen. Die Preise für die Software standen bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch nicht fest.
Website: www.virtuprocycling.com
Preis: 0 € pro Monat
RGT Cycling
Auch in RGT Cycling rollt der Radsportler durch animierte, virtuelle Welten, z. B. über die liebevoll nachgebildeten Strecken auf das Stilfser Joch oder zum Cap Formentor auf Mallorca. Besonderheit: RGT ist in der Basisversion kostenfrei. Eines der spannendsten Features gibt es aber nur in der Bezahlversion: Hier kann der User GPS-Daten einer eigenen Strecke hochladen, aus denen die Software dann eine Straße durch eine computeranimierte Landschaft baut.
Website: www.rgtcycling.com
Preis: 8,99 € pro Monat
Rouvy
Rouvy – Bildquelle: VR Room
Let’s get real: Bei Rouvy flimmern die Videos realer, abgefilmter Strecken, hinterlegt mit den original GPS-Daten über den Bildschirm. Die Besonderheit: Für ausgewählte und entsprechend optimierte Strecken, etwa legendäre Anstiege wie der legendäre Col du Tourmalet oder die Route des Ötztaler Radmarathons werden die realen Strecken mit animierten Radsportlern kombiniert. Für ambitionierte Sportler gibt es spezielle Trainingspläne und offizielle Rennen, etwa in Kooperation mit der Ironman-Serie oder der Vuelta a España.
Website: www.rouvy.com
Preis: 12 € pro Monat
BKool
Bkool – Bildquelle: Tour Magazin
Echt oder animiert? Bei BKool hat der Sportler die Wahl. Zahlreiche Strecken lassen sich auf Basis echter Videos nachfahren, auf Knopfdruck kann der User aber auch auf die animierte Version umschalten. Wer will, kann sich in Rennen und einer Liga mit anderen Sportlern messen. Die User können auch selbst Inhalte beisteuern, indem sie Videos ihrer eigenen Strecken erstellen und hochladen.
Website: www.bkool.com
Preis: 9,99 € pro Monat
The Sufferfest
Der Name ist Programm: „to suffer“ heißt zu deutsch „leiden“ und ein Fest ist das Training mit dieser Software auch. Speziell entwickelte Trainingsvideos auf Basis echter Strecken und zum Teil in Profirennen gefilmter Szenen werden mit detaillierten Trainingsanweisungen und knackiger Musik angereichert. So bietet The Sufferfest ein sinnvolles, motivierendes Trainingsprogramm auf Basis eines speziellen Leistungstests. Neben Radsport gibt es auch Übungen zu Yoga und Krafttraining.
Website: www.thesufferfest.com
Preis: 14,99 € pro Monat
Deshalb im Zweifelsfall vorher prüfen, ob das Fahrrad für den Einsatz auf der Rolle freigegeben ist.
Das BIKEBOOK liegt in gedruckter Form in unseren Filialen aus und wird üblicherweise jeder Bestellung in unserem Fahrrad Onlineshop beigelegt.
Das Magazin soll dich unterhalten, informieren und begeistern. Im Mittelpunkt steht natürlich das schönste Hobby und Fortbewegungsmittel der Welt. Das Fahrrad.
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