Tausende Meter tiefe Straßenschluchten, auf deren Grund die Menschen sich auf Rollbändern statt auf dem Bürgersteig fortbewegen. Über ihren Köpfen sausen die fliegenden Autos kreuz und quer durch die Luft. Und dazwischen werden Passagiere durch kilometerlange Transportröhren von A nach B befördert – als eine Art menschliche Rohrpost also. Ungefähr so sehen die Antworten der Städte auf die Herausforderungen von morgen aus. Dachten zumindest die Science-Fiction-Visionäre des 20. Jahrhunderts. Doch wer heute aus den Fenstern auf die Straßen der Großstädte blickt, wird wenige dieser Visionen umgesetzt sehen. Stattdessen hat sich das Idealbild der Stadt aus heutiger Sicht deutlich verändert.
Fakt ist: Die Städte werden immer voller. Über die letzten Jahrzehnte hat die Urbanisierung rund um den Erdball immer mehr Menschen aus den ländlichen Bereichen in die Städte gespült. In Europa leben heute schon mehr als 70 Prozent der Menschen in städtischen Gebieten, Tendenz steigend. Bis 2030 werden es laut einer Studie der Vereinten Nationen schon fast 80 Prozent sein. Und auch in Deutschland ist die zunehmende Verstädterung ein großes Thema. Und zwar eines, das die Städteplaner vor immense Herausforderungen stellt. Das weiß auch Ulrich Syberg, wenn er von einem Verkehrskollaps der Großstädte spricht. „In Berlin, Köln oder München kommt der Verkehr in den Stoßzeiten fast zum Erliegen“, erklärt der Bundesvorsitzende des Allgemeinen Deutschen Fahrrad Clubs (ADFC). In der Rushhour könnten die Autofahrer demnach gerade mal noch 10-15 Kilometer pro Stunde zurücklegen, sagt Syberg und fordert entsprechende Gegenmaßnahmen:
„Wenn jetzt nicht umgesteuert wird, werden die Städte der Zukunft nicht mehr funktionieren.“
Die großen Städte und Ballungszentren müssen sich also neu erfinden. Und klar ist: Anders als bislang spielt das Privatauto dabei nur noch eine untergeordnete Rolle – ganz gleich, ob fliegend oder nicht. Stattdessen drängt ein anderes Verkehrsmittel wieder massiv in den Vordergrund. Ein günstiges, schnelles, unkompliziertes und gesundes Verkehrsmittel: das Fahrrad!
GOLDENE ZEITEN
Ob Amsterdam, London oder gar New York – in vielen Städten erobert das Zweirad mehr und mehr die Straßen zurück. Der US-amerikanische Fahrradbauer und Mitbegründer der Mountainbike-Szene Joe Breeze spricht gar schon von einem „zweiten Goldenen Zeitalter des Fahrrads“. Als erstes gilt übrigens ungefähr die Zeit zwischen 1890 und 1920. Damals war es zunächst total schick, auf dem Velo über die Straßen der Großstädte zu flanieren. Sehen und gesehen werden. Mit steigender Beliebtheit fielen die Preise, immer mehr Menschen konnten sich ein Fahrrad leisten… doch dann fuhr das Automobil mit seinem rasanten Siegeszug dem Fahrrad abrupt den Rang ab.
Folgt nun, gut 100 Jahre später, tatsächlich ein neues goldenes Fahrrad-Zeitalter als Antwort auf die Verkehrsprobleme der Großstadt? Die Vorteile eines höheren Fahrradanteils am Verkehr liegen jedenfalls auf der Hand:
- Eine lebenswertere Stadt
Wenn mehr Menschen vom Auto auf das Fahrrad umsteigen, profitiert die Attraktivität der Stadt enorm. Denn weniger Autos brauchen auch weniger Platz auf den Straßen und weniger Parkplätze. So könnten beispielsweise neue Flächen für Außengastronomie oder Pflanzen und Bäume geschaffen werden. Zudem wird die Belastung der Menschen durch Motorenlärm und Abgase reduziert. - Gesündere Menschen
Weniger Lärm und Abgase sind nicht nur gut für die Psyche des Menschen, sie verbessern auch die Gesundheit. Doch wer auf das Fahrrad steigt, sich an der frischen Luft körperlich betätigt, der unterstützt seine Gesundheit auch aktiv. Die Folge: ein geringerer Krankenstand und auch ein entsprechender volkswirtschaftlicher Nutzen. Zudem ist ein Mensch, der morgens mit dem Rad statt mit dem Auto etwa ins Büro fährt, schon durch die Bewegung einfach besser gelaunt. - Geringere Kosten
Das Fahrrad belastet die Straßen und Plätze der Städte kaum. Ganz im Gegensatz zu dem schweren Auto. Entsprechend sinken die Abnutzung und damit auch die Instandhaltungskosten der Straßen. Und ganz nebenbei ist das Fahrrad natürlich auch in Anschaffung und Unterhalt wesentlich günstiger als das Auto. So spart auch der Bürger selbst ordentlich Bares. - Volkswirtschaftlicher Nutzen
Nach Berechnungen der Weltgesundheitsorganisation WHO senkt das Fahrradfahren nicht nur Kosten, es hat gar einen positiven Effekt auf die Volkswirtschaft. Das von der WHO ins Leben gerufene Berechnungstool HEAT (Health economic assessment tool) verrät: Wer einen Euro in den Radverkehr investiert, erzielt damit einen volkswirtschaftlichen Nutzen von drei bis vier Euro. Und die australische Regierung kam in einer Studie aus dem Jahr 2013 zu dem Ergebnis, dass schon eine 20-minütige Fahrt zur Arbeit einen volkswirtschaftlichen Nutzen von umgerechnet 14,50 Euro mit sich bringt. Dieser Nutzen setzt sich etwa aus Faktoren wie verbesserter Gesundheit, geringerer Verkehrsbelastung, besserer Luftqualität oder eingesparten Parkgebühren zusammen. - Umweltschutz
Mehr Fahrräder gleich weniger Autos gleich weniger Abgase. So senkt die Entwicklung hin zum Rad automatisch den C02-Ausstoß und reduziert damit die Belastung der Umwelt erheblich
Doch um von den zahlreichen Vorteilen des Fahrrads zu profitieren, muss die Stadt der Zukunft auch die entsprechenden Voraussetzungen bieten. Und die sind allzu oft noch mehr als ausbaufähig. Hier kann und muss viel getan werden. Denn wenn eine Stadt nachdrücklich und sinnvoll in das Fahrrad investiert, profitieren am Ende alle davon. Wie manch eine Leuchtturmprojekt bereits beweist. Das wohl am hellsten leuchtende aller Beispiele findet sich in Kopenhagen, der „City of Cyclists“. Hier habe man den wirtschaftlichen und sozialen Wert der Gestaltung einer „Stadt für den Menschen“ erkannt und auch umgesetzt, so der renommierte Architekt Jan Gehl. Gehl, selbst ein Sohn Kopenhagens, ist ein Verfechter von Plätzen, an denen sich Menschen erfreuen können. Er hat sogar ein Buch zu dem Thema verfasst. Der Titel: „Cities for People“.
KOPENHAGEN – CITY OF CYCLISTS
Auch mit Gehls Unterstützung stellten die Entscheider in der Hauptstadt Dänemarks früh die Weichen pro Fahrrad. Und mit Nachdruck. In Kopenhagen wurde und wird massiv in den Ausbau der Fahrradinfrastruktur investiert. Etwa in neue, breite Radwege, die oft abgekoppelt von den Straßen zügiges Vorankommen garantieren. Dazu wurden ganze Tunnels oder Brücken quer über den Hafen nur für Radfahrer gebaut. Die Ampeln wurden auf vielen Strecken so geschaltet, dass Fahrradfahrer auf der schwer beliebten grünen Welle fahren können. Und auch auf dem obligatorischen Radträger am Taxi oder in der S-Bahn fährt das Rad problemlos mit. Das Ergebnis: Mehr als 1/3 aller Wege werden in der Stadt bereits mit dem Rad zurückgelegt. Zieht man die Pendler ab, sind es gar satte 55 Prozent. Ein Wert, der Städteplaner aus aller Welt anerkennend nach Dänemark blicken lässt. Und der Kopenhagen zu einer Art Welt-Hauptstadt des Fahrrads macht. Es gibt mittlerweile sogar ein eigenes Verb, dass die Bestrebungen anderer Städte beschreibt, es der dänischen Metropole gleichzutun: „copenhagenize“!
Doch auch in Kopenhagen selbst haben sie noch große Ziele. So soll die Stadt mit Hilfe des Fahrrads bis 2025 komplett CO2-neutral funktionieren. Allerdings bringt der Boom auch Probleme mit sich: Das Zweirad ist so erfolgreich, dass die wichtigsten Straßen und Radwege zu den Stoßzeiten aus allen Nähten platzen. Deshalb sollen künftig ganze Straßenspuren den Autofahrern entzogen und dem Fahrrad gewidmet werden. Und zwar am besten variabel. Mit dem intelligenten Verkehrssystem IST (Intelligent Traffic System). Die Idee: In den Asphalt eingelassene LED-Anlagen weisen je nach Auslastung und Verkehrsentwicklung die Fahrbefugnisse auf der Straße aus. So wird etwa ein Teil der Straße in der Rush-Hour kurzerhand zur Busspur umfunktioniert. Zu anderen Zeiten wird einfach der Radweg um ein paar Meter erweitert. Und bei weniger Verkehr darf die komplette Straße uneingeschränkt mit dem Auto befahren werden.
MUT IST GEFRAGT
Viel Bewegung also in unserem nördlichen Nachbarland. Doch auch hierzulande tut sich durchaus etwas.
„Der Rad-Anteil am Gesamtverkehr wächst auch in Deutschland“,
weiß ADFC-Bundesvorsitzender Ulrich Syberg und ergänzt, dass immer mehr Großstädter sogar ganz auf ein Auto verzichten. Doch Syberg erklärt auch: „Es würden noch viel mehr Menschen auf das politisch gewollte, aber schlecht geförderte Rad steigen.“ Vorausgesetzt, die Bedingungen würden entsprechend verbessert. „In Kopenhagen hat man den Mut, Stück für Stück Parkplätze zu Radwegen umzugestalten, breite Radspuren anzulegen und eigene Brücken nur für den Radverkehr zu bauen. Doch den Deutschen fallen solche Schritte bisher noch schwer“, sagt er.
Es gibt also noch eine Menge zu tun. Das belegt auch der Fahrrad-Monitor Deutschland 2013. Die im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) vom Sinus-Institut durchgeführte Umfrage zeigt, dass sich 82 Prozent der Deutschen im Alter zwischen 14 und 69 Jahren auf kommunaler Ebene für eine stärkere Beschäftigung der Politik mit dem Thema Radverkehr aussprechen.
In mancher Stadt wurden diese Signale tatsächlich erhört. Lichtblicke sieht ADFC-Mann Syberg etwa in Karlsruhe, Offenburg, Bremen oder Potsdam. „Auch das Ruhrgebiet würde einen riesigen Sprung nach vorn tun, wenn das Konzept des Radschnellwegs Ruhr zur Entlastung der A40 tatsächlich gebaut würde“, so Syberg.
MÜNSTER – DEUTSCHLANDS FAHRRADHAUPTSTADT
Gar nicht weit entfernt vom Ruhrgebiet liegt auch Deutschlands Fahrrad-City Nummer Eins: Münster. Die adrette Stadt mit ihren gut 300.000 Einwohnern steht in Umfragen nach den beliebtesten Fahrradstädten regelmäßig ganz vorn. Wesentlichen Anteil daran haben Michael Milde und seine Kollegen vom Amt für Stadtentwicklung, Stadtplanung und Verkehrsplanung. Sie können das vorweisen, wovon ihre Kollegen aus allen Teilen der Republik meist nur träumen: In Münster werden mehr Kilometer mit dem Rad als mit dem Auto zurückgelegt. Eine Haushaltsbefragung aus dem Jahr 2013 belegt, dass 39,1 Prozent der Münsteraner auf das Fahrrad setzen, aber nur 29 Prozent auf das Auto. Damit, und darauf darf Milde mit vollem Recht besonders stolz sein, ist der Radanteil in Münster fast viermal so hoch wie im bundesweiten Durchschnitt.
„Die Münsteraner nutzen einfach selbstverständlich bei jedem Wetter das Fahrrad. Und zwar quer durch alle Bevölkerungs, – Berufs- und Einkommensgruppen“,
erklärt Milde. Für den Erfolg des Zweirads in der Stadt gibt es zwei wesentliche Gründe: Erstens wurde die schwer zerstörte Stadt nach dem 2. Weltkrieg weitgehend auf dem alten Grundriss wieder aufgebaut. In vielen anderen Städten indes wurden neue Verkehrsstraßen durch die geschundenen Viertel geschlagen. Und zweitens hat man in Münster schon in den 1960er-Jahren erkannt, dass die Stadt die Autos irgendwann nicht mehr würde aufnehmen können. Alternativen mussten her. Und sie wurden gefunden. In der verkehrspolitischen Förderung des Fahrradverkehrs. So vervierfachte sich allein von 1972 bis 1984 auf manchen Straßen die Zahl der Fahrradfahrer. Und es werden immer mehr. Die Zutaten für diese Entwicklung lesen sich wie eine ausgefeilte Anleitung für andere Städte, ihren Radverkehrsanteil zu erhöhen. So wurden in Münster etwa:
- Einbahnstraßen und Fußgängerzonen für den Radverkehr geöffnet
- kontinuierlich neue Radwege gebaut
- attraktive Abstellanlagen geschaffen, etwa das imposante Fahrradparkhaus am Hauptbahnhof
- der kombinierte Bike & Ride-Verkehr gefördert
- in Öffentlichkeitsarbeit und Internetangebote investiert
- die Sicherheit des Radverkehrs an Verkehrsknoten und Ampeln verbessert
Doch auch in der deutschen Vorzeigestadt sind die Planer noch lange nicht zufrieden. Entsprechend soll die Zahl der Radfahrer mit weiteren ehrgeizigen Projekten noch weiter gesteigert werden. Ein wesentliches Potential dazu bilden auch die immer beliebter werdenden E-Bikes. Schließlich können damit selbst weniger trainierte Menschen entspannt und ohne große Anstrengung durch die Stadt fahren. Vor allem aber wollen die Münsteraner der Zahl der Verkehrsunfälle senken, etwa durch die Optimierung der baulichen Infrastruktur. Dazu wurde bereits vor einigen Jahren gar ein spezieller Masterplan Verkehrssicherheit aufgelegt.
Die Fahrradstadt der Zukunft ist also heute schon greifbar nahe. Die Veränderungen in Kopenhagen, Amsterdam oder auch Münster belegen eindrucksvoll, warum sich die Fokussierung auf eine radfahrerfreundliche Stadt auf breiter Front lohnt. Und so stellt sich eigentlich nur noch eine Frage: Warum folgen eigentlich nicht alle Städte diesem Vorbild?
Unsere Empfehlung: Steig aufs Rad so oft es möglich ist!
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wo ist das Foto genau aufgenommen worden mit dem roten Fahrradweg? danke 🙂
Hallo Sabine,
in Kopenhagen :).
Die Fahrradstadt der Zukunft entsteht grad bei mir in Wien 🙂